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Spirituelle Missverständnisse, meisterhaft geklärt

Im Dhammapada findet sich ein Wort, das meist mit „Steh auf!“ oder „Erwache!“ übersetzt wird. Im spirituellen Sinn bedeutet es jedoch, sich durch Selbst-Analyse über das Körperbewusstsein zu erheben und sich als unsterbliche Seele zu erkennen.

Soami Divyanand (1932-2014) hat u. a. die Veden übersetzt und lehrte über 35 Jahre den Pfad des inneren Lichts und Klangs, der in allen heiligen Schriften bezeugt ist.

Buddha und das Dhammapada

Die Grundlagen des Buddhismus sind in einer Schrift namens „Dhammapada“ dargelegt. Dieser Titel heißt soviel wie „das Wesen der Religion“ und bezeichnet die Weisheit des Buddha. Religion ist eins mit dem Ewigen Gesetz, und folglich beschreibt auch Buddha darin das Wirken dieses Gesetzes. Doch wurden seine Worte anders gedeutet, und so entstand der Eindruck, sie würden eine neue Botschaft verkünden.

Ehe wir eines dieser Missverständnisse auflösen, müssen wir klären, was der Name „Buddha“ bedeutet. Es gibt zehn Inkarnationen oder Verkörperungen Gottes. Sie stehen für zehn göttliche Eigenschaften, die auch in einem Gottmenschen gegenwärtig sind. Eine dieser Inkarnationen ist Buddha: „der von göttlicher Weisheit erfüllt ist“. Jeder einzelne Gottmensch, der seit Anbeginn der Schöpfung in der Welt gewirkt hat oder bis heute wirkt, war oder ist demnach Buddha. Anders gesagt: Buddhas oder von Weisheit erfüllte Menschen sind alle vollendete Gottmenschen.

Was nun das Dhammapada angeht, so gibt es Aussagen Buddhas wieder, die zu Lehrzwecken gesammelt und als Schrift herausgegeben wurden. Abgefasst ist es in Pali, einer Sprache, die mit dem Sanskrit verwandt ist und damit eine Vielzahl von Begriffen gemeinsam hat.

Es genügt nicht, nur die Schrift en zu rezitieren, da sie lediglich die Selbst- Erfahrungen anderer wiedergeben. Es kommt vielmehr darauf an, die gleichen Erfahrungen im eigenen Leben zu machen.

  Erhebe dich!“

So findet sich zum Beispiel in Vers 168 das Wort uthist, das gewöhnlich mit „Steh auf!“ übersetzt wird. Im spirituellen Sinne bedeutet es jedoch, sich über die physische Ebene zu erheben. (Vgl. Ps. 119,62; 3,6; 25,1 sowie 9,14.) Damit drückt Buddha Folgendes aus: Wenn wir den Pfad der Religion gehen wollen, müssen wir über das Körperbewusstsein hinausgehen, das uns glauben macht, wir seien auf unsere personale, leibliche Existenz beschränkt.

Dieser Vorgang ist auch als Selbst-Analyse bekannt. Dabei lösen wir unsere Seele vom Körper und erkennen, dass wir etwas davon Verschiedenes sind. Der Aufruf „Mensch, erkenne dich selbst!“ bezieht sich auf diese Erfahrung. Wie mein Meister Sant Kirpal Singh stets betonte, „geht Selbsterkenntnis der Gotterkenntnis voraus.“ Solange wir nicht wissen, wer wir selber sind (Seelen) können wir auch nicht wissen, wer Gott (die Überseele) ist und bleiben nach Guru Nanak „in der Täuschung gefangen“. Darum prägte mein Meister den Satz: „Religion fängt dort an, wo die Philosophien der Welt enden.“

Es genügt nicht, immer nur die Schriften zu rezitieren, da sie lediglich die Selbsterfahrungen anderer wiedergeben. Es kommt vielmehr darauf an, die gleichen Erfahrungen im eigenen Leben zu machen.     

Wähnen oder wissen?

Wenn wir von der Theorie zur Praxis übergehen, besteht der erste Schritt darin, uns über das Körperbewusstsein zu erheben und zu erkennen, wer wir in Wahrheit sind. Jetzt sagen wir: „Dies ist mein Körper, meine Hand, mein Kopf.“ Doch wer ist derjenige, dem das alles gehört? Sage ich hingegen: „Dies ist mein Jackett“, so kann ich es ablegen und sehen, dass es etwas von mir Getrenntes ist. Genauso können wir auch diesen Körper ablegen und von der Seele trennen. Dann erkennt die Seele, dass sie etwas anderes ist als der Körper.

Nun mag jemand einwenden: „Aber das ist doch nichts Neues. Ich weiß sehr wohl, dass ich eine unsterbliche Seele bin.“ Das ist jedoch nichts weiter als eine Folgerung, die wir aus den Erfahrungsberichten anderer Menschen abgeleitet haben – wir selbst haben unsere Seele nie unabhängig vom Körper erlebt. Darum warnte Sant Kirpal Singh stets: „Schlussfolgerungen sind dem Irrtum unterworfen. Sehen heißt glauben.“ Die Zeugnisse der Schriften nur zu hören und nachzubeten reicht nicht aus, um uns in dieser Frage Gewissheit zu bringen. Dazu gibt es eine Geschichte, die den Unterschied zwischen eigenständigem Erleben und angelerntem Wissen anschaulich macht (nachzulesen in dem Beitrag „Sie haben Post!“ in diesem Heft). Unsere übliche Überzeugung, die Seele sei unsterblich, hält gerade so lange vor, bis jemand aus unserem Umfeld die Erde verlässt. Dann denken wir betrübt: „Jetzt ist er tot – auf Nimmerwiedersehen von uns gegangen!“

 Mehr als "Erwache"!

Dies bestätigt einmal mehr in aller Deutlichkeit: Solange wir nicht selbst erfahren haben, dass die Seele auch ohne Körper weiter existiert, können wir nichts mit Sicherheit über sie aussagen. Um dem Pfad der Religion zu folgen (der religio oder Rückverbindung unserer Seele mit der Überseele Gott), müssen wir uns zu allererst selbst als Seele erkennen.

In allen Religionen existieren mehr oder weniger klare Schriftstellen wie diese: „Lerne zu sterben, auf dass zu leben beginnst.“ So lehrt zum Beispiel der Islam: „Stirb vor der festgesetzten Stunde deines Todes.“ Das lehrte auch der Buddha, als er seine Jünger anwies, sich über das Körperbewusstsein zu erheben. Denn erst durch diese grundlegende Erfahrung fangen wir an zu begreifen, was Religion ihrem Wesen nach bedeutet.

Buddhas Worte „Erhebe dich!“ werden auch mit „Erwache!“ übersetzt und als Aufruf verstanden, den Zustand der Unbewusstheit zu überwinden. Diese Wiedergabe trifft zwar insofern zu, als wir beim Übersteigen des Körperbewusstseins ebenfalls erwachen: aus der Täuschung, ein körperliches Wesen zu sein. Dennoch kann dieser Wortlaut zu der Fehldeutung führen, es ginge nur um Bewusstsein von Wissen. Die übliche Übersetzung „Steh auf!“ geht jedenfalls am spirituellen Wortsinn von uthist vorbei: „Erhebe dich über das Körperbewusstsein!“ Mehr zu dieser Übungspraxis beim nächsten Mal.

Soami Divyanand

Foto(s): Thinkstock

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