Ein Thema – sechs Facetten
Religion ist aus dem menschlichen Sein nicht wegzudenken. Wie eine scharfe Waffe kann sie nützen oder schaden. Sie kann in die Einseitigkeit verführen oder zur Weisheit führen.
Religion ist mehr als Moral
Aus religiösem Analphabetismus, den es – Gott sei es geklagt – auch bei religiösen Menschen gibt, ist schon sehr viel Unmoral in die Welt gekommen.
Wenn man behauptet, moralischen Analphabetismus können wir uns nicht leisten, aber religiösen können wir uns leisten, dann muss ich sagen: Aus religiösem Analphabetismus, den es – Gott sei es geklagt – auch bei religiösen Menschen gibt, ist schon sehr viel Unmoral in die Welt gekommen. Deswegen brauchen wir beides: Wir brauchen Menschen, die moralisch gebildet sind, und wir brauchen Menschen, die religiös gebildet sind. Beides ist nicht das Gleiche, denn Religion ist mehr und anderes als Moral.
Dass Religion gut und wichtig ist, würde ich nicht mit dem moralischen Nutzen der Religion begründen. Wer Religion auf Moral reduziert, der nimmt nicht ernst, was Menschen umtreibt. Religion hat jedoch auch moralische Konsequenzen; sie lassen sich in einem Wort zusammenfassen und konzentrieren und dieses Wort heißt Nächstenliebe. Gottvertrauen und Nächstenliebe zusammen, als die eiserne Reserve, mit der viele Menschen durch die Welt gehen.
Ich habe gelernt, Religions- und Kirchenkritiker zu sein, und ich weiß, dass Religion und Kirchen ihren Gott auch oft zum Götzen gemacht haben. Ich weiß, dass sie sehr oft hinter dem zurückgeblieben sind, was ihnen anvertraut ist. Und trotzdem weiß ich keine andere In stanz, die ein wirksameres Gegenmittel ist gegen das, was im Namen der Religion schiefgelaufen ist, als die Religion selbst. Deswegen bin ich tief davon überzeugt, dass die Trennlinie, die wir heute haben, nicht zwischen Vernunft und Religion verläuft, sondern zwischen Fundamentalismus und Toleranz.
Alt-Bischof Wolfgang Huber