Die kugelförmige, immergrüne Pflanze, um die sich so viele Geheimnisse ranken, gehört bei vielen Menschen zu Weihnachten wie bei uns der Tannenbaum.
Wenn die Bäume im November ihr Laub schon fast verloren haben, sind an einigen meist hoch oben, dichte kugelförmige grünliche Büsche zu bemerken: Die Mistel. Ihre botanische Bezeichnung ist „Viscum“, was zugleich das lateinische Wort für Leim ist. Ihre Beeren enthalten einen klebrigen Saft, den die Römer als Leim zum Fangen von Vögeln benutzten. Bei uns sehen die erbsengroßen Beerenweißlich aus, in südlicheren Ländern wie dem Libanon oder in Afrika können sie in gelben und rötlichen Farben leuchten. Misteln kommen weltweit vor. Unsere einheimische Mistel hat hellgrüne Zweige, die gabelförmig wachsen und jeweils am Ende zwei sich gegenüberliegende kleine, ledrige Blätter tragen. Noch unscheinbarer sind die nur millimetergroßen Blüten, die mit ihrem leichten Zitronenduft im Frühjahr die Insekten anlocken. Es gibt hunderte von Mistelarten. Meist verankern sich ihre Wurzeln durch die Rinde der Bäume hindurch im Holz ihres Wirtes und entziehen dem Baum Wasser und Nährstoffe. Sie sind also Schmarotzer.
Zugleich gelten die Misteln seit Jahrtausenden als Heilpflanzen mit Zauberkräften. Ihr irischer und walisischer Name bedeutet „Allheilmittel“. Die keltischen Heiler, die Druiden, sollen (laut Plinius) Misteln mit einer goldenen Sichel geerntet und zu einem Trunk verarbeitet haben, der u.a. die Fruchtbarkeit von Mensch und Tier anregt. Populär wurde der Zaubertrank des Druiden Miraculix aus den Asterix-Heften. In England ist es heute noch Brauch, Mistelzweige speziell zur Weihnachtszeit über der Haustür anzubringen. Das soll Böses abhalten und Glück und Liebe einla-den. Wer sich unter einer Mistel küsst, wird bald heiraten.
Weil die Mistel scheinbar ohne Wurzeln immer grün ist wirkte sie stets sehr geheimnisvoll und wie ein Symbol des Ewigen Lebens. So ranken sich viele Sagen um sie. Frigga, die Frau von Gott Odin, sorgte sich um ihren Sohn Baldur, weil der immer wieder von seinem Tod träumte. So bat sie alle Wesen in der Natur um das Versprechen, Baldur nicht zu verletzen. Leider vergaß sie, die Mistel zu fragen. Feuergott Loki, ein Rivale Baldurs, machte sich das zunutze und ließ den jungen Gott des Lichts mit einem Pfeil aus Mistelholz töten. Doch die Tränen der Mutter erweckten in Form von weißen Mistelbeeren den Sohn wieder zum Leben. Die Germanen verehrten die Mistel im Zusammenhang mit der Wintersonnenwende als eine heilige Pflanze. In Skandinavien wurde und wird das Holz eines von Misteln bewachsenen Baumes verbrannt. Das verkohlte Holz soll das Haus beschützen. In der englischen Grafschaft Staffordshire muß der traditionelle Weihnachtspudding unbedingt über einem Feuer zubereitet sein, das ausschließlich von Mistelzweigen genährt wird. Der Brauch des Küssens unter dem Mistelzweig könnte übrigens vom römischen Fest der Saturnalien herrühren, das jeden 17. Dezember geradezu orgiastisch gefeiert wurde. Mitte des 19. Jahrhundert wurden zunehmend Einladungskarten zum Weihnachtsfest mit der Mistel als Symbol für Frieden und Liebe populär.
Viele der Heilwirkungen, die der Mistel zugeschrieben wurden, so etwa, dass sie gegen Epilepsie helfen würde, konnten medizinisch nicht nachgewiesen werden. Auch die von Rudolf Steiner begründete Misteltherapie bei Krebserkrankungen ist sehr umstritten. Steiner war überzeugt, dass die Mistel den Krebszellen die Flüssigkeit und Energie entziehe und damit absterben lasse, so wie sie einem Baum das Wasser entziehe. Auch heute noch empfehlen einige anthroposophische Ärzte Misteln bei der Krebstherapie. Wird sie zusätzlich zu den herkömmlichen Behandlungsformen eingesetzt kann sie immerhin laut einige Studien psychologisch helfen. Zu den erstaunlichen medizinischen Eigenschaften der Mistel gehört, dass sie den Blutdruck je nach individueller Situation senken wie auch erhöhen kann. Die Pflanze hat zweifellos eine ausgleichende Wirkung auf Herz und Kreislauf. Die Beeren sind allerdings leicht giftig und gehören nicht Kinderhände. Und so schön sich ein voller Mistelzweig über der Haustür oder im Weihnachtszimmer macht: In Deutschland steht die Pflanze unter Naturschutz. Sie sollte nicht einfach vom Baum geholt werden, ist aber legal in Geschäften erhältlich.
Christian Salvesen