Kritik und Selbstkritik erscheinen uns wie Naturphänomene, denn wir wachsen alle mit wohlgemeinten Ratschlägen auf. Wenn wir selbst Kritik üben, fühlen wir uns als Verbesserer, dabei empören wir uns nur auf subtile Weise.
Der gute Gedanke - VISIONEN-Essay von Katja Niedermeier
Geht es Ihnen auch so, dass Sie viele Dinge, die Sie so tun, für kaum erwähnenswert halten? Und fällt Ihnen schnell jemand ein, der das, was Sie leisten, noch einen Tacken lässiger, akkurater, schneller kann als Sie? Und dabei auch viel besser aussieht und womöglich noch einen draufsetzt…? Dann geht es Ihnen wie mir… früher. Denken Sie, wenn es Ihnen mal nicht so super geht, schnell an all diejenigen, denen es noch viel, viel „un-superer“ geht und reißen Sie sich dann tapfer am Riemen? Dann geht es Ihnen wie mir… früher. Fühlen Sie sich manchmal total verweichlicht, weil Ihnen der kleinste Pups zu viel ist, während die alleinerziehende Nachbarin ihre 4 Kinder samt Haushalt managed und zwischendurch mal eben ganz selbstverständlich zur KFZ-Zulassungsstelle UND zum Bürgeramt gurkt? Dann geht es Ihnen wie mir… früher.
Früher dachte ich nämlich, es sei wohl eine Art Tugend, vielleicht auch ein Zeichen von Stärke oder wenigstens ein guter Charakterzug, wenn man hart mit sich selbst ins Gericht geht, sich dabei an der Leistung anderer misst und sich immer fein selbstkritisch hinterfragt.
„War das jetzt wirklich genug?“
„Wieso kann die in hohen Schuhen rennen und ich knicke barfuß im Stehen um?“
„Wie, jetzt schon eine Pause? Ich habe doch noch gar nicht die Küche fertig!“
„Mache ich das richtig oder ginge es anders schneller / effizienter / einfacher / „besser“?“
„Wenn ich mich anstrenge, dann ist das alles locker zu schaffen.“
„Ich darf jetzt nicht…“ (anrufen / schlafen / essen gehen / stören / fernsehen / …)
Alles Kopf-Bullshit!
Ist die eigene Gerichtbarkeit überaktiv, passiert etwas ziemlich Übles: Wir bremsen uns aus. Wir fühlen uns verunsichert, lassen uns einschüchtern, und unser Motor läuft immer ein wenig zögerlich und vorsichtig, um ja nicht unangenehm aufzufallen oder zu stören, um bloß nicht zu laut zu sein, zu schrill zu erscheinen oder zu still, zu wortkarg, zu redselig, zu wehleidig. Wir gewöhnen uns an, uns der Gefälligkeit halber zu verstellen und geben vor, unkomplizierter zu sein, als wir in Wirklichkeit sind. Doch gefallen wir uns auf Dauer selbst? Macht uns das zufrieden? Drückt sich so die Liebe zum Leben aus?
Warum wohl klettert der Schwarzbär auf Bäume und der Grizzly nicht? Sind schließlich beides Bären! Leben beide im Wald! Fressen beide Lachs! Mensch, Grizzly, nimm’ dir mal ein Beispiel an dem schwarzen Zottel! Aber der Grizzly, dieser smarte Typ, denkt sich: „Brauch’ ich nicht. Will ich nicht. Muss ich nicht.“ OK, er denkt es nicht, er weiß es einfach. Das reicht ja schon. Man könnte ihm nun vorwerfen, er wolle es ja noch nicht einmal probieren, er sei stur und bequem und würde sich ja gar keine Mühe geben. Und während dem armen Vieh diese ganzen Vorwürfe an den Kopf geworfen werden, ist der Grizzly ziemlich gechillt und einfach das, was er ist: eben kein Schwarzbär.
Sich selbst ein dickes, bärenstarkes und liebevolles „Ich brauche das nicht“ oder aber ein „Ich darf das!“ auszusprechen, ist ein Zeichen von Selbstliebe (nicht zu verwechseln mit „Egoismus“). Wir tun uns und anderen damit einen riesigen Gefallen: Wer weniger selbstkritisch ist, kritisiert auch andere weniger. Wer sanfter und nachsichtiger zu sich selbst ist, gönnt auch anderen ihre Macken und lässt hier Fünfe gerade sein. Es gibt ein Gedicht, dessen Verfasser mir leider nicht bekannt ist, welches mit dem nachdenkendswerten Satz beginnt: „Wenn ein Kind kritisiert wird, lernt es zu verurteilen.“
Selbstkritik entsteht immer aus einem stark hinkenden Vergleich mit anderen Menschen heraus. Wir stecken weder in deren Schuhen, noch haben wir ihre Voraussetzungen, ihre Persönlichkeit, ihre Herkunft oder ihre Gene. Vergleiche zu Anderen sind nicht gut, nicht fair und nicht förderlich - weder für uns, und schon gar nicht im Bezug auf unser Gegenüber. Kritik und Selbstkritik dienen dazu, etwas Bestehendes zu bemängeln und auf einen vermeintlich verbesserungswürdigen Zustand aufmerksam zu machen, der jedoch oftmals gar nicht zu verändern ist. Wie frustrierend! Und mal ganz ehrlich: wie liebevoll und wohlgemeint kann Kritik schon sein, wenn jemand das, was er am Anderen wahrnimmt, anders haben will, er denjenigen also so, wie er sich ihm gerade zeigt, nicht wirklich mag?
„Wohlgemeinte“ oder „konstruktive“ Kritik an einer Person ist eher eine Art Manipulation als ein Akt der Barmherzigkeit. Deshalb reagieren die meisten Menschen, auf ungebetene (!) Kritik auch zunächst einmal wenig erfreut und derjenige, der ohne vorherige Aufforderung Kritik an jemandem übt, wäre wohl recht töricht, dafür auch noch ein „Danke!“ zu erwarten. Der Vorwurf: „Du kannst einfach nicht mit Kritik umgehen.“ stärkt nicht gerade das gegenseitige Vertrauensverhältnis.
Wir alle sehen Dinge, Eigenschaften, Charakterzüge und Neigungen zu unterschiedlichen Momenten mit unterschiedlichen Augen und aus völlig verschiedenen Blickwinkeln. Erst unsere sperrigen, unbequemen, unorthodoxen und kantigen Facetten ermöglichen es uns, in anderen Momenten smart, unkompliziert, geschmeidig und gefällig zu erscheinen – natürlich je nachdem, wer uns gerade wahrnimmt.
Über unsere Essayistin
Katja Niedermeier ist gebürtige Sauerländerin und arbeitete im In- und Ausland beim TV und in der Musikindustrie. Seit 2001 unterstützt sie Menschen im Rampenlicht sowie Unternehmer/innen intuitiv, energetisch und strategisch. Sie entwickelte das Workshop- und Fern-Mentoring-Programm „Karma Business“ basierend auf buddhis-tisch inspirierten Erfolgsstrategien und ist die Autorin der beiden Ratgeber „Gelassenheit im Job“ und „Gut gelaunt erfolgreich“ (Beck-Verlag). www.k-acht.com
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Katja Niedermeier