Hass, Konflikte, Gewalt: Bislang wurde für keine andere Sache so viel Blut vergossen wie für die Religion. Man fragt sich zu Recht: Wozu soll Religion gut sein? Welchen Sinn hat es, irgendeiner Religion anzugehören?
Bei der UNO sind derzeit mehr als 3000 Religionen registriert, daneben gibt es noch viele, die nicht erfasst sind. Fortlaufend kommen weitere Religionen auf, die auf einen spirituellen Meister, einen Guru oder einen Gottmenschen zurückgehen. Angesichts dieser verwirrenden Vielzahl ist es schwierig zu entscheiden, welche Religion authentisch ist und welchem Zweck sie dient. Die Entscheidung wird noch dadurch erschwert, dass unter den vielen existierenden Religionen jede einzelne den Anspruch erhebt, den anderen Glaubensgemeinschaften überlegen zu sein. Hinzukommt, dass jede Religion für sich beansprucht, allein der Weg zur Erlösung zu sein; man könne die Erlösung nur durch die Zugehörigkeit zu genau dieser Religion finden. Ein Dilemma, das jedoch völlig überflüssig ist.
Religion ist Gotterkenntnis
Als erstes ist festzuhalten, dass es grundsätzlich nur eine Religion gibt: Religion besteht in Gotterkenntnis. Das Wort „Religion“ selbst bedeutet „Rückbindung“ – damit ist die Rückbindung der Seele an ihre Quelle, ihren Ursprung, gemeint.
Der eine allmächtige Gott hat die Seelen aus sich selbst hervorgebracht, und im Zuge der Erschaffung der Welt haben sie sich von ihrem göttlichen Ursprung losgelöst und sich in der materiellen Welt selbständig gemacht. Aber die Seelen leiden unter dieser Trennung, sie sind in ihrem Zustand der Gottferne unglücklich. Der Zweck von Religion besteht darin, die Seelen von all ihrem Leiden zu befreien. Religion ist der Weg oder Pfad, auf dem die Seele wieder mit Gott vereint wird. Wenn die Seele wieder zu Gott zurückfindet, ihre Trennung von ihm also beendet ist, dann ist Religion verwirklicht. Gott ist einer, d.h. es gibt nur einen allumfassenden, allmächtigen Gott, der dieses Universum erschaffen hat, es aufrechterhält und es schließlich wieder auf löst. Und da es nur einen Gott gibt, ist der Weg zurück zu Ihm für alle Seelen auch nur ein und derselbe.
Angelesenes Wissen, Nachdenken und Schlussfolgerungen reichen erfahrungsgemäß nicht aus, um wahrhaftig etwas über Gott in Erfahrung zu bringen und zu Ihm zu gelangen. Wir bleiben in unserer eigenen Gedanken- und Vorstellungswelt stecken und legen uns ein eigenes Konzept von Gott zurecht. Tatsächlich können wir nur deshalb etwas über Gott wissen, weil Gott sich uns selbst zu erkennen gibt, d.h. sich offenbart. Von Anfang an offenbart sich Gott der Seele der Menschen immer auf die gleiche Art und Weise – und darin liegt der einzige Weg zurück zu Ihm. Deshalb gibt es nur diese eine grundlegende Religion.
Teilansichten oder Panoramablick
Aber warum gibt es dann so viele Religionen und religiöse Organisationen auf Erden? Es ist wie in der Geschichte von den vier Blinden und dem Elefanten: Ein Elefant ging eine Straße entlang. Vier Blinde standen am Wegesrand. Der Elefantentreiber sah sie und rief ihnen warnend zu: „Hier kommt ein Elefant, geht bitte aus dem Weg!“ Die Blinden, die noch niemals einen Elefanten erlebt hatten, baten ihn: „Lass uns doch bitte den Elefanten sehen!“ Der Besitzer des Elefanten war einverstanden, stellte das Tier vor sie hin und sagte: „Jetzt könnt ihr ihn euch anschauen.“
Wie wir wissen, „sehen“ die Blinden, indem sie die Gegenstände abtasten, und so betasteten sie alle den Elefanten und sagten schließlich: „Danke! Jetzt haben wir den Elefanten gesehen.“ Der Elefantenführer fragte sie nun: „Gut, ihr habt also das Tier gesehen; bitte beschreibt es mir.“ Der Mann, der den Schwanz des Tieres abgetastet hatte, sagte: „Nun, der Elefant ist nichts anderes als ein Seil von etwa einem halben Meter Länge.“ Der Nächste, der ein Bein des Elefanten befühlt hatte, schrie ihn an und sagte: „Du irrst dich! Der Elefant ist wie eine Säule.“ Der Dritte, der das Ohr des Tieres betastet hatte, sagte: „Nein, nein, ihr habt beide unrecht. Der Elefant ist ganz anders – eher wie ein Segel.“ Der Letzte schließlich hatte den Bauch des Elefanten abgetastet und sagte: „Was redet ihr denn da? Es ist etwas gewaltig Großes, so groß, dass man darauf schlafen könnte.“ Sie gerieten nun in heftigen Streit miteinander, und jeder behauptete, er wisse genau, wie der Elefant aussehe, und die anderen hätten sich getäuscht. – Dies beschreibt genau die Situation unter den Religionen: Jeder sagt, dass seine Auffassung die einzig richtige sei und die anderen im Irrtum seien.
Der Elefantenführer sagte nun zu ihnen: „Hört auf zu streiten! Jeder von euch hat recht, und jeder irrt sich auf seine Weise.“ Einer der Blinden fragte zurück: „Wie ist das möglich? Es kann nur eine Wahrheit geben, und wir widersprechen uns doch alle. Wie können wir alle recht haben?“ Der Elefantenführer erwiderte: „Ihr habt alle nur einen Teil des Elefanten gesehen. Wenn ihr alle das ganze Tier gesehen hättet, wären eure Streitigkeiten sofort beigelegt.“
Spirituelle Meister
Unser Problem ist, dass wir Gott nie gesehen haben und dennoch über Ihn sprechen. Wenn aber jemand da ist, der Gott gesehen hat und der fähig ist, Ihn uns zu zeigen, hören die Meinungsverschiedenheiten auf. Es hat zu allen Zeiten solche vollendeten spirituellen Meister wie Lord Krishna, Mahavir, Buddha und Jesus Christus gegeben, die nicht nur selbst Gott sahen, sondern auch ermächtigt waren, anderen dieselbe Erfahrung zu vermitteln. Bei ihnen gab es diese Meinungsverschiedenheiten nicht, weil die Menschen unter ihrer spirituellen Obhut Offenbarungen von Gott empfingen und deshalb akzeptieren konnten, dass Er unser aller Gott ist.
Gott selbst ist ohne Gestalt, aber Er gibt sich in 33 verschiedenen Formen in unterschiedlichen Kategorien zu erkennen, z.B. Licht, Klang, Soma. Und eine dieser Formen ist der Gottmensch, durch den alle anderen Offenbarungsformen wirken. So heißt es in der Bibel: „Das Wort ward Fleisch und wohnte unter uns.“ (Joh 1,14). Einen solchen menschlichen Pol, durch den Gott in seinen manifesten Formen wirkt, bezeichnet man auch als eine Inkarnation Gottes.
Zu allen Zeiten haben diese göttlichen Manifestationen durch solche menschlichen Pole gewirkt, denn die Menschen, die das Verlangen nach der Wiedervereinigung mit Gott in sich tragen, können nur durch einen auf Erden lebenden Menschen geführt werden, der über diese göttlichen Offenbarungen verfügt und sie anderen ermöglichen kann.
Zeitlich begrenzte Führung
Nehmen wir z.B. jene Menschen, die zu Zeiten Lord Ramas lebten – seine Schüler wurden von ihm geführt, solange er auf Erden lebte, und erlebten Gott in seinen manifesten Formen. Und die Menschen, die damals mit Jesus Christus in Kontakt standen, wurden von ihm auf dem Weg zu Gott angeleitet und erkannten Gott durch seine Offenbarungen in ihrer Seele. Gott ist gestaltlos, aber er wirkte vollumfänglich in Jesus Christus, er nahm in Jesus Christus Gestalt an. Jesus war für die Menschen seiner Zeit die Quelle der Wiederverbindung mit Gott, und zwar so lange, wie er auf Erden lebte. Aber nun lebt er nicht mehr auf der Welt, und so können wir nicht mehr durch ihn mit Gott Verbindung aufnehmen. Jesus selbst wies darauf hin, mit den Worten: „Ich bin das Licht der Welt, solange ich in der Welt bin.“ (Johannes 9,5)
Keine neue Religion
Wenn ein solcher Gottmensch die Welt wieder verlässt, gibt es immer den einen oder anderen Anhänger, der beginnt, in seinem Namen eine andere Form von Religion zu predigen und eine Organisation zu gründen, da er Religion und die Lehre des Meisters nicht im richtigen Sinne versteht. Da er nicht bevollmächtigt ist, die göttlichen Offenbarungen zu vermitteln, spricht er zwar von ihnen, aber ohne zu verstehen, was sie bedeuten.
Das wichtigste Element in diesen organisierten Religionen ist, dass jede von ihnen behauptet, neu zu sein und sich von den bereits bestehenden zu unterscheiden. Jesus Christus betonte jedoch, dass Religion ein zeitlos gültiges göttliches Prinzip („Gesetz“) ist und dass er gekommen war, um die Propheten zu bestätigen. Aber nach seinem Weggang bezeichneten die Leute seine Lehre als neue Religion, die sich von jener des sogenannten Alten Testaments unterscheide. Wenn ein Gottmensch auftritt, ruft er niemals eine neue Religion ins Leben. Vielmehr führt er die Menschen zurück zur Meditation, so dass sie in ihrer Seele Gottes Offenbarungen empfangen können. Wenn wir im Innern göttliche Offenbarungen empfangen, werden wir von innen geführt und erlangen so das rechte Verständnis von Religion.
Streit aus Irrtum
Gott schuf also nur eine Religion, nämlich den Weg zurück zu Ihm. Menschen, die von dieser einen Religion nichts verstehen, organisieren aus eigennützigen Motiven heraus viele verschiedene Religionen. Dies ist deutlich zu erkennen, denn wir finden in diesen Organisationen die Eckpfeiler der Religion nicht verwirklicht. Der wirkliche Gott wird durch ihre eigenen Vorstellungen ersetzt. Sie legen nicht Gottes ewiges Gesetz zugrunde, sondern behaupten, mit ihrer Religion sei etwas Neues entstanden. Und sie legen die Heiligen Schriften falsch aus, weil sie sie nicht begreifen, und deshalb entstehen Meinungsverschiedenheiten, Gewalt, Hass und Aufspaltung.
Wenn wir also feststellen, dass es im Namen der Religion viel Gewalt gibt, müssen wir korrekterweise sagen, dass dies nicht auf die Religion an sich zurückzuführen ist, sondern auf das falsche Verständnis von Religion. Üben wir Religion jedoch auf die rechte Weise aus, indem wir einfach den spirituellen Pfad der Offenbarung Gottes gehen, verschwinden all diese Konflikte.
Soami Divyanand