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In der Sprache der Spiritualität steht der Baum für einen spirituellen Lebenswandel. Aber was macht eine spirituelle Lebensweise aus? Und wie lässt sie sich im Alltag verwirklichen?

Mit den Wurzeln fest in der Erde gegründet, mit Stamm und Ästen kräftig nach oben ins Licht wachsend, mit der Krone dem Himmel zustrebend, und eine üppige Fülle von Blüten und Früchten tragend: Der Baum ist ein weltweit verbreitetes Symbol für Leben und Lebenskraft. In den spirituellen Überlieferungen der Welt steht er als Symbol für einen spirituellen Lebenswandel, der unvergängliche Früchte trägt: Weisheit, Glückseligkeit, die Lebendigkeit und Freiheit der Seele.

Ein universelles Symbol

Die Bibel beginnt mit dem Baum des Lebens an den Wasserströmen im Garten Eden und endet – zumindest für Christen – mit der Verheißung: „Wer überwindet, dem will ich zu essen geben von dem Baum des Lebens, der im Paradies Gottes steht.“ In der spirituellen Bildersprache der Bibel steht der Baum als Symbol für den Lebenswandel eines Menschen, der eng mit Gott verbunden ist. In Psalm 1 heißt es zum Beispiel: „Selig der Mann, der Freude hat an der Weisung des Herrn … Er gleicht einem Baum, gepflanzt am Rande der Wasser, der Früchte trägt zur rechten Zeit und dessen Blätter nicht welken: ja, alles was er tut, es gelingt ihm.“ Im Zusammenhang mit dem zeitlosen Pfad der Spiritualität symbolisiert der Baum das Wachsen und Gedeihen der Seele dank Meditation und spiritueller Lebensweise. Sogar der immergrüne „Weihnachtsbaum“ lässt sich in diesem Sinne deuten. Die Sterne und die bunten Lichter, mit denen wir ihn schmücken, erinnern an die verschiedenen Lichtformen Gottes und andere Visionen, die wir in der Meditation erfahren können. Eine dieser Offenbarungen ist die innere Schau des Firmaments, an dem neben Sonne und Mond ein besonders heller Stern zu unterscheiden ist, der vielen als „Stern von Bethlehem“ geläufig ist.

Schon die uralten Veden kennen den Baum als Symbol für einen spirituellen Lebenswandel. Von diesem Lebensbaum heißt es, dass nur ein Narr bzw. ein einfältiger Mensch ihn von der Erde wegheben und siegreich von dannen tragen kann. Im spirituellen Sprachgebrauch ist der „Narr“ jemand, der sich lieber auf die göttliche Sophia, die göttliche Weisheit verlässt, als auf den beschränkten menschlichen Verstand. Der Narr ist kein Intellektueller, der meint, alles besser zu wissen als Gott. Leicht und unbekümmert geht er durchs Leben im Vertrauen darauf, dass die Weisungen Gottes ihn zur rechten Zeit erreichen und führen werden.

Lebensbaum und Kreuz

Eine besondere Form des Lebensbaums ist das Kreuz, von dem Christus sagt, wir sollen es „täglich aufnehmen“. Was ist dieses Kreuz, von dem Christus spricht, und was verbindet es mit einem Baum? Wohin und wozu sollen wir es täglich erheben? Ein Kreuz kann als ein stark vereinfachter, auf seine Grundmerkmale reduzierter Baum verstanden werden. Beide – Baum und Kreuz – dehnen sich sowohl in die Vertikale als auch in die Horizontale aus. Im Gegensatz zu einem Baum hat ein Kreuz aber keine Wurzeln, um sich fest im Erdreich zu verankern, und keine Äste, die sich nach allen Seiten verzweigen. Und da es auch keine Krone hat, weist es geradewegs zum Himmel. In Form des Kreuzes erinnert uns der Lebensbaum daher an die Notwendigkeit, auf Erden nicht dauerhaft Wurzeln zu schlagen und unsere Aufmerksamkeit nicht in alle möglichen Richtungen zu verzweigen. Stattdessen sollen wir uns ungehindert zum Himmel erheben. Das bedeutet, dass wir innerlich so losgelöst und gesammelt leben sollten, dass wir unsere Seele jederzeit leicht ins Jenseits erheben können. Und wenn es in der vedischen Überlieferung heißt, dass nur ein „Narr“ die Fähigkeit hat, den Lebensbaum von der Erde wegzuheben und davonzutragen, dann heißt das mit anderen Worten: Nur ein Mensch, der sich mehr nach Gott richtet als nach den eigenen weltlichen Wünschen und Plänen, vermag seine Aufmerksamkeit mühelos von seinen irdischen Wurzeln lösen und von der Erde in die Sphären des Himmelsreiches zu erheben.

Der Aufstieg am Lebensbaum

Das Kreuz hat aber nicht nur Ähnlichkeit mit einem Baum, sondern gleicht auch einer menschlichen Gestalt mit ausgebreiteten Armen. Deshalb steht es außerdem für den menschlichen Körper. Wenn wir unser Bewusstsein, das normalerweise völlig mit unserem Körper-Ich identifiziert ist, regelmäßig (also „täglich“) über den Bereich der sinnlichen Wahrnehmung erheben, werden zugleich unsere Bindungen an die Welt gelöst. Der Ort, an dem wir uns über das materielle Bewusstsein und das Körper-Ich erheben können, ist das sogenannte Dritte Auge oder Zehnte Tor. So heißt es, weil es oberhalb der beiden physischen Augen bzw. oberhalb der neun Sinnestore des Körpers angesiedelt ist. Durch dieses unsichtbare Tor hinter der Stirn können wir ins „Himmelreich“, in das „Reich Gottes“ in uns eintreten.

Wenn unser Bewusstsein während der Meditation dort hinaufgezogen wird, erfahren wir den sogenannten „Tod im Leben“, den der Apostel Paulus mit den Worten: „Ich sterbe täglich“ beschreibt. Denn in der Meditation geschieht genau dasselbe wie beim Vorgang des Sterbens. Wenn wir also durch die Praxis der Meditation in der Lage sind, uns mühelos zum Zehnten Tor zu erheben und anschließend wieder in den Körper zurückkehren, ist damit auch der Tod aufgehoben. Dann gleichen wir dem Narren, der als Sieger den Lebensbaum davonträgt, weil er den Tod überwunden und dadurch „das ewige Leben“ gewonnen hat. Auf diesen Zusammenhang verweist Christus in der oben erwähnten Bibelstelle: „Wenn einer mir nachfolgen will, so verleugne er sich selbst, nehme sein Kreuz auf sich und folge mir nach. Denn wer sein Leben retten will, der wird es verlieren; wer aber sein Leben verliert um meinetwillen, der wird es finden.“

Den goldenen Mittelweg finden

In dem Maße, wie wir die Fähigkeit entwickeln, das Körperbewusstsein zu übersteigen, bilden wir auch einen spirituellen Lebenswandel heraus. Das bedeutet aber nicht, dass wir kaum noch weltliche Interessen und Neigungen zeigen und nur noch spirituelle Tugenden erkennen lassen. Vielmehr ist beides so miteinander vermischt, dass wir sowohl weltliche als auch spirituelle Verhaltensweisen zeigen. Strenggenommen kann der Mensch sein Leben auf zweierlei Arten führen: Zum einen kann er sein Heil in materiellen Errungenschaften und sinnlichen Genüssen suchen, frei nach dem Motto: „Iss, trink und lass es dir gut gehen – das Leben ist kurz und wer weiß, was danach kommt.“ Wer nach dieser Devise lebt, bleibt zusammen mit den übrigen Schöpfungsarten im Kreislauf der Wiedergeburt gefangen.

Daneben gibt es einen zweiten Weg, der in die Freiheit führt: Alle Geschöpfe, ob sie sich nun als Menschen, Tiere oder in anderen Lebensformen verkörpert haben, sind hier, um die Folgen ihrer früheren Handlungen (Karmas) abzutragen. Nur der Mensch hat das Privileg, nach einer Möglichkeit zu suchen, dem Kreislauf der Wiedergeburt zu entrinnen. Natürlich müssen wir auch als Menschen ernten, was wir gesät haben. Zugleich haben wir aber die Chance, den Zwang zur Wiederverkörperung zu brechen. Der Lebenswandel, der diesem Weg entspricht, wird als „Pfad des Yoga“ bezeichnet.

Extreme vermeiden

Wenn unsere Lebensweise aber zu einseitig wird und entweder zu sehr nach der weltlichen oder zu sehr nach der spirituellen Seite tendiert, dann ist dies wie alle Extreme von Übel. Nehmen wir zum Beispiel den wissenschaftlichen und technischen Fortschritt, der in immer rasanterem Tempo verläuft und unser Leben tiefgreifend verändert. Jede technische Neuerung machen wir uns sofort zunutze. Aber hat uns dieser Fortschritt auch glücklicher gemacht? Davon kann keine Rede sein. Denn nach wie vor kann sich der Mensch nicht sicher sein, was ihn nach dem Tode im Jenseits erwartet. Aber auch der Fortschritt, der einseitig in die spirituelle Richtung geht, macht uns nicht unbedingt glücklicher. So gibt es Menschen, die sich mithilfe spiritueller Praktiken so weit entwickelt haben, dass ihnen sämtliche Naturerscheinungen aufs Wort gehorchen. Mit ihren Siddhi-Kräften können sie zum Beispiel – statt ihr tägliches Brot durch eigener Hände Arbeit zu verdienen – alle Arten von Materie in jedes beliebige Nahrungsmittel umwandeln. Nur in einer Hinsicht nützt ihnen dieser ganze Fortschritt nichts, und zwar wenn es darum geht, ihre karmischen Lasten abzubauen.

Beide Pole ausgleichen

Wenn wir die beiden grundlegenden Lebensstile miteinander vergleichen, den weltlichen und den spirituellen, stellen wir fest, dass sie in genau entgegengesetzte Richtungen weisen: der eine schenkt uns materielle Genüsse, während der andere uns mit Glück und Seligkeit erfüllt. Keiner dieser beiden Wege ist für sich allein der richtige für uns. Denn wir sind ja gerade deshalb auf dem spirituellen Pfad, weil er die einzige Möglichkeit ist, um unsere weltliche Karma-Last abzubauen. Darum werden wir es, so lange wie wir auf diesem Pfad unterwegs sind, immer wieder mit beiden Polen zu tun bekommen.

So kann es Phasen geben, wo wir große spirituelle Fortschritte machen, und solche, wo unser Interesse an der Spiritualität abflaut oder uns sogar ganz abhandenkommt. Es kann auch Phasen geben, wo wir so sehr mit weltlichen Problemen oder Aufgaben beschäftigt sind, dass wir uns dadurch zeitweilig vom spirituellen Pfad entfernen. Wir können uns aber nicht einfach hinsetzen und abwarten, bis unser Leben endlich einmal frei von störenden weltlichen Einflüssen ist, sondern müssen unseren spirituellen Weg auch dann weitergehen, wenn die Dinge nicht so einfach sind, wie wir sie gerne hätten. Denn es wird niemals einen Zeitpunkt geben, wo wir keine Probleme mehr haben und uns ausschließlich unserer spirituellen Entwicklung widmen können. Wir müssen also beides – Gott und die Welt, die Vertikale und die Horizontale, die spirituelle und die materielle Seite unseres Lebens – so miteinander verbinden, dass sie harmonisch zusammenwirken. Nur so können wir den Lebensbaum siegreich davontragen.

Soami Divyanand

Soami Divyanand (1932 – 2014), Meister des Surat-Shabd-Yoga, lehrte mehr als 35 Jahre lang den spirituellen Pfad des inneren Lichtes und Klangs. Veden-Übersetzer und Autor zahlreicher Bücher.

Foto(s): THINKSTOCK

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