Wie können wir zu Gott finden? Indem wir vor allem anderen Liebe zu ihm entwickeln. Und das ist keine Kopfentscheidung, sondern eine Angelegenheit des Herzens. Der spirituelle Meister Sant Kirpal Singh erklärt, worauf es dabei ankommt.
Nehmen wir an, wir haben den Wunsch, einen bestimmten Menschen persönlich kennen zu lernen. Wie stellen wir es an? Zunächst suchen wir Kontakt zu jemandem, der uns etwas über ihn erzählen kann. Seine Hinweise werden unsere Aufmerksamkeit in die gewünschte Richtung lenken. Mit der Zeit werden wir mehr und mehr über diesen für uns so interessanten Menschen wissen, und bald genügt ein bloßer Gedanke an ihn, um in uns das Verlangen nach einer persönlichen Begegnung erneut zu wecken und wachsen zu lassen. Wir werden den Wunsch verspüren, in das Land zu reisen, in dem er lebt. Dort werden wir die Stadt besuchen wollen, in der er wohnt, und wenn wir endlich an seinem Wohnort sind, werden wir nicht eher ruhen, bis wir direkt vor seiner Haustür stehen.
Lesen ist ein Anfang
So ähnlich verhält es sich mit der Suche nach Gott: Als Mensch geboren zu sein (und nicht als Insekt oder Pflanze) ist eine goldene Gelegenheit, zu unserem göttlichen Schöpfer zurückzufinden. Doch zuerst einmal müssen wir etwas über unseren Schöpfer, den himmlischen Vater, wissen. In Büchern und den heiligen Schriften können wir nachlesen über die Begegnungen von Heiligen mit dem spirituellen Meister ihrer Zeit, dem „fleischgewordenen Wort Gottes“, das unter den Menschen wohnte. Wir lesen dort auch, wie dieser Meister selbst zum ersten Mal Gott erfuhr. Und natürlich werden seine überlieferten Worte unser eigenes Verlangen steigern, so sehr, bis auch wir Gott sehen und auf die gleiche Weise wie er erfahren wollen.
Die Lektüre der Schriften mit ihren Berichten über gotterfahrene Meister bewirkt, dass unsere Aufmerksamkeit in die gleiche Richtung gelenkt wird. Denn wozu sonst lesen wir die Schriften und beten um alle möglichen Dinge, wenn nicht mit dem Ziel, das liebevolle Denken an Gott in unserem Herzen zu vertiefen? Der erste Schritt ist also, dass wir uns mit den Schriften befassen, in denen uns frühere spirituelle Meister von Gott erzählen. Auf diesem Wege – durch Meister der Vergangenheit, die aus Büchern zu uns sprechen – erfahren wir etwas von Gott, bis wir ein immer stärkeres Verlangen nach ihm entwickeln und beginnen, die Trennung von ihm als schmerzhaft zu empfinden. Dann wird uns, wenn wir seiner in Liebe gedenken, das Herz unwillkürlich so schwer, dass wir darüber Tränen vergießen.
Was man liebt, daran bindet man sich
Gott ist Liebe, und auch die Seele ist Liebe, denn sie ist vom selben Wesen wie ihr göttlicher Schöpfer. Liebe bindet. Als lebendige Seelen sind wir bewusste Wesen, und daher sollte unsere Liebe gleichfalls einem bewussten Wesen gelten. Aber stattdessen hat sich unsere Liebe an den physischen Körper und die materielle Welt geheftet. Und so wurde aus Liebe Bindung oder Anhaften, mit dem Ergebnis, dass wir wieder und wieder in diese materielle Welt zurückkehren müssen. Den spirituellen Meistern zufolge ist der menschliche Körper – die höchste und komplexeste Stufe der gesamten Schöpfung – der Ort, an dem wir unsere Liebe zur materiellen Welt in Liebe zu Gott verwandeln können. Daher ist es angebracht, uns von Zeit zu Zeit selbst zu hinterfragen und zu prüfen, wie weit wir bisher gekommen sind. Lieben wir wirklich Gott? Wenn ja, dann wird er uns mit unfehlbarer Sicherheit begegnen. Lieben wir aber im tiefsten Herzen die Dinge dieser materiellen Welt mehr und sind an sie gebunden, dann bleibt uns nichts anderes übrig, als wieder und wieder in diese Welt zu kommen – zu den Dingen, die wir lieben. Wenn wir aber in demselben Ausmaß, wie wir an die Welt gebunden sind, Liebe zu Gott entwickeln, wohin werden wir dann wohl gehen? Natürlich zu Gott.
Gott im Herzen haben
Das Leben als Mensch bietet uns die goldene Gelegenheit, unsere Liebe zur Welt auf Gott umzulenken. Der heilige Kabir sagt: „Unser ganzes Leben lang haben wir uns nicht um diese Frage gekümmert; nun ist es an der Zeit, unsere Aufmerksamkeit von der äußeren, materiellen Welt abzuziehen und auf Gott zu richten.“ Wie können wir dies erreichen? Wenn man jemanden liebt, dann trägt man ihn immer im Herzen. Man vergisst ihn nicht einen Moment. Was müssen wir also tun, wenn wir Gott lieben wollen? Wir sollten jede Sekunde unseres Lebens an ihn denken und ihn niemals vergessen. Wenn man einen Menschen liebt, dann ist es ganz natürlich, dass der Gedanke an ihn nicht aus dem Herzen weicht. So verhält es sich auch mit der Gottesliebe: Man hat den Wunsch, Gott zu lieben, und indem man fortwährend an ihn denkt und ihn ständig im Herzen trägt, stellt sich diese Liebe tief und spürbar ein.
Umgang mit Gottliebenden
Als Menschen – Seelen, die in menschlicher Gestalt inkarniert sind – haben wir die Fähigkeit, bewusst zu handeln und festzustellen, wie nah wir unserem Ziele gekommen sind. Es ist gut, von Gott zu hören, die Schriften zu lesen oder mit jemandem zusammen zu sein, dessen Gegenwart uns hilft, die liebevolle Erinnerung an Gott zu vertiefen. Am allerbesten aber, weit besser noch als das Lesen von Büchern, ist es, bei einem Menschen zu sein, der mit überströmender Liebe zu Gott erfüllt ist. Diese Liebe strahlt auf andere aus und man nimmt sie auf, so wie man den Duft in einer Parfümerie aufnimmt, selbst wenn man dort nichts kauft. Ohne liebevolles Gottgedenken gibt es keine Rückkehr zu ihm. Es lässt sich, wie gesagt, in der Weise entwickeln, dass man erstens die Schriften liest oder auch regelmäßig bestimmte Rituale vollzieht. Der beste Erfolg aber stellt sich ein, wenn man zweitens jemanden trifft, der von überströmender Liebe und Ergebenheit für Gott erfüllt ist. Die Gemeinschaft mit einem solchen Menschen heißt auf Sanskrit „satsang“ (wörtlich: Gemeinschaft mit der Wahrheit). Ein solcher gottverwirklichter Mensch ist ein Sprachrohr Gottes – Gott spricht und wirkt durch ihn. Und er ist dazu befähigt, anderen das innere Auge zu öffnen, damit sie das Licht Gottes schauen. Denn erst wenn wir Gott in der eigenen Seele sehen, erwacht wahre Liebe in uns. Bis dahin brauchen wir die Gemeinschaft mit einem gottverwirklichten spirituellen Meister. Sie geht der Begegnung mit Gott in uns voraus.
Gott schauen
Wir können Gott erst dann wirklich lieben, wenn wir Ihn gesehen haben. Bis dahin sind wir nämlich nicht restlos von seiner Existenz und Gegenwart in uns überzeugt. Um Gott sehen und wahrnehmen zu können, brauchen wir jemanden, der uns das innere Auge und das innere Ohr öffnen kann, damit wir das Licht Gottes erblicken und die Stimme Gottes vernehmen. Diese Erfahrung ist nur im menschlichen Körper möglich, der uns zum Glück eine ganze Reihe von Jahren gehört. Wo Regen fallen soll, müssen zuerst Wolken sein – ohne Wolken gibt es keinen Regen. Und nur ein blühender Obstbaum lässt auf Früchte hoffen – ohne Blüte keine Frucht. Die Blüte ist ein Vorbote der Frucht, wie die Wolken Vorboten des Regens sind. Ähnlich füllt sich unser Herz erst dann mit Liebe, wenn wir aus Schmerz, von Gott getrennt zu sein, nach ihm weinen. Dann fließen die Tränen wie Regen. Sie sind ein Anzeichen dafür, dass wir Gott nähergekommen sind, und kündigen zugleich sein Kommen an. Ein muslimischer Heiliger wurde einmal gefragt: „Siehst du erst Gott und betest dann, oder betest du erst und dann kommt Gott?“ Er gab zur Antwort: „Zuerst kommt Gott, dann bete ich.“ – „Und woher weißt du, dass er da ist?“ – „Mein Herz wird schwer, und meine Augen werden nass. Dann denke ich: Nun ist er da und zieht mich innerlich an sich. Und dann beginne ich zu beten.“ Auf diese Art und Weise also kündigt sich die Ankunft Gottes an.
Worauf es ankommt
Wenn wir in eine bestimmte Glaubensrichtung gestellt wurden oder uns ihr angeschlossen haben, dann nur deshalb, um Liebe für Gott zu entwickeln. Bleibt in der religiösen Gemeinschaft, in der ihr gerade seid; das spielt weiter keine Rolle. Wenn ihr Gott von Herzen liebt, dann haben eure Mühen – das Lesen der Schriften und all eure äußeren Übungen – Frucht getragen. Ihr mögt alle Schriften gelesen haben und sie sogar auswendig können – wenn ihr keinen Funken Liebe für Gott im Herzen habt, war all euer Streben umsonst. Dann werft die Schriften lieber ins Feuer. Das Einzige, worauf es ankommt, ist die Liebe zu Gott; sie steht und fällt mit der Erinnerung an ihn. Vergesst ihn keinen Augenblick, ob ihr esst oder schlaft, wo immer ihr geht und steht. Wenn ihr diese Stufe erreicht, kommt ihr ganz von selbst zu Gott. Erforscht die Tiefen eures Herzens und stellt fest, wie weit ihr seid.
Die Sprache der Liebe
Ihr wisst nun, worauf es ankommt. Nun prüft euch, wo ihr steht. Denkt ihr immer an Gott, ohne ihn jemals zu vergessen? Fühlt ihr einen Schmerz im Herzen? Wird euch das Herz schwer, so dass euch die Tränen kommen? In diesen Anzeichen äußert sich eure Liebe zu Gott. Wer eine solche Liebe im Innern spürt, ist außerstande zu sprechen. Die Sprache der Liebe ist jenseits aller Worte. Die Liebe eines gottliebenden Menschen zeigt sich nur in seinen Tränen. Die gleiche Liebe müssen auch wir in unserem Leben entwickeln.
Der menschliche Körper gehört uns nur für eine begrenzte Zeit. Ein mehr oder weniger großer Teil davon ist bereits vorbei. In der Zeit, die uns noch bleibt, sollten wir uns beeilen und diese Gottesliebe möglichst rasch entwickeln. Sie sollte absoluten Vorrang haben; dann werden wir nicht in diese Welt zurückkommen. Und wenn doch, so kämen wir als Ärzte, nicht als Gefangene. Eines steht also fest: Um zu Gott zurückzukehren, müssen wir lernen, ihn zu lieben. Widmet ihm all euer Tun. Der Umgang mit gottliebenden Menschen und die liebevolle Erinnerung an sie geben uns den nötigen Ansporn. Schriftenstudium, Rituale und dergleichen sind nur dann von Wert, wenn sich beim Gedanken an Gott das Herz mit Liebe füllt und die Augen mit Tränen. Bittet Gott, diese Liebe in euch zu entwickeln. Oder pflegt Umgang mit Menschen, die vor Gottesliebe überströmen und euch helfen, sie in euch zu nähren.
Sant Kirpal Singh
Sant Kirpal Singh, (1894 – 1974) wirkte von 1948 bis zu seinem Tod als spiritueller Meister des Surat-Shabd-Yoga. Auf seinen Vortragsreisen und als langjähriger Präsident der „Weltgemeinschaft der Religionen“ erwarb er sich im Osten wie im Westen große Achtung und Sympathie.