
Ist das Leben in dieser Welt tatsächlich das, wofür wir es halten? Spirituelle Lehrer und Meister sagen: Nein, es ist weit mehr und weit größer als es den Anschein hat. Und sie zeigen uns, wie wir den Blick aufs Ganze bekommen können.
Wir alle unterliegen einer gewaltigen Täuschung. Wir Menschen treiben durchs Leben in dieser Welt dahin und merken gar nicht, dass die Dinge nicht wirklich so sind, wie wir meinen. Worin besteht die Täuschung? Wir alle sind lediglich Bewohner des menschlichen Körpers, aber im Lauf der Zeit haben wir uns so sehr mit ihm identifiziert, dass wir uns selbst für den Körper halten. Unser ganzes Denken, Sprechen und Handeln wird von diesem eingeschränkten, auf die physische Existenz reduzierten Selbstverständnis bestimmt. Wir sind jedoch bewusste Wesen, Tropfen aus dem Meer der Allbewusstheit, auch wenn wir uns selbst nicht so wahrnehmen. Und es ist eine Gnade, dass wir den menschlichen Körper erhalten haben, die höchste Stufe in der Schöpfung, denn nur in dieser Form haben wir die Chance, den Weg zurück zu unserem göttlichen Schöpfer zu finden.
Die Illusion von Beständigkeit
Es gibt einen zweiten Grund, warum wir in einer großen Täuschung leben: Der Körper besteht aus Materie, die ganze Welt besteht aus Materie. Materie verändert sich jeden Augenblick – die Materie der Welt verändert sich mit der gleichen Geschwindigkeit wie unser Körper. Wenn sich nun zwei Dinge mit der gleichen Geschwindigkeit verändern und wir uns mit einem davon identifizieren, scheint es uns, als wären beide beständig und unveränderlich. Nehmen wir zum Beispiel an, wir rudern in einem Boot auf einem Fluss und dieses treibt mit der Strömung flussabwärts. Wenn wir uns nun ausschließlich mit dem Boot identifizieren und sich das Boot mit derselben Geschwindigkeit bewegt wie der Fluss, dann hat es für uns den Anschein, dass wir uns nicht bewegen. Der Körper und die Welt bestehen beide aus Materie und beide verändern sich, aber wir leben Tag für Tag in der Illusion, dass die Dinge so bleiben werden, wie sie momentan sind. Wir sind hereingefallen auf den Anschein von Beständigkeit. Seit jeher sagen uns die spirituellen Meister: „Du musst dich aus dieser Illusion lösen, damit du die Welt in ihrer richtigen Perspektive sehen kannst.“ Die Frage ist nun, wie man aus dieser Täuschung herausfindet.
Der Blick über den Rand
Es gibt zwei Wege, von dieser Täuschung frei zu werden. Einer davon ist der Blick über den Bootsrand in die Weite: Wenn jemand in einem Boot sitzt, braucht er nur den Blick zu heben und auf die Ufer des Flusses zu schauen und er wird feststellen, dass er sich flussabwärts bewegt. Eine wirksame Methode, den Blick in die Weite zu richten und die Unbeständigkeit der Materie und des menschlichen Körpers zu sehen, ist der Besuch auf einem Friedhof oder in einem Bestattungsinstitut oder Krematorium. Dort wird man sehen, wie Mitarbeiter die Toten für die Beisetzung vorbereiten, sie hin und her tragen oder sie den Flammen übergeben. Meist haben wir uns jedoch selbst so sehr vergessen, dass wir, auch wenn wir es mit eigenen Augen sehen oder gar selbst einen Toten zu Grabe getragen haben, noch nicht überzeugt sind, dass auch wir eines Tages diesen Körper verlassen müssen. So groß ist die Täuschung!
Der Blick von außen Der zweite und bessere Weg zur Befreiung aus der Täuschung ist es aber, gar nicht im Boot zu sein, sondern außerhalb. Wenn man nicht mehr im Boot sitzen würde, könnte man sehen, wie es mit den Menschen, die darin sitzen und sich damit identifizieren, flussabwärts treibt. Entsprechend lehren die spirituellen Meister, wie man sich in der Meditation über das Körperbewusstsein erhebt und vorübergehend den Körper verlässt, damit man erkennt: „Ich bin ja nicht der Körper, sondern ein vom Körper unabhängiges, bewusstes Wesen!“ Erst diese durch eigene Erfahrung gewonnene Erkenntnis hat genügend Überzeugungskraft, um die große Täuschung aufzulösen. Um uns selbst als vom Körper unabhängige Seele bzw. bewusstes Wesen zu erkennen, müssen wir also lernen, uns vom Körper zu lösen und in die geistigen Bereiche jenseits der materiellen Welt aufzusteigen. Dann erleben wir selbst, dass wir ohne materiellen Körper sein können. Dann begreifen wir, was wir wirklich sind. Dann erscheint alles in seiner richtigen Perspektive. Die spirituellen Meister haben die Menschen schon immer dazu aufgefordert: „Mensch, erkenne dich selbst!“ und: „Lerne zu sterben (d. h. über den Körper aufzusteigen), damit du zu leben beginnen kannst!“ Dazu geben sie, wenn sie kompetent sind, ihren Schülern eine praktische Anleitung, damit sie tatsächlich diese Erfahrung machen können. Wir leben nicht für immer hier auf Erden oder im menschlichen Körper. Eines Tages – früher oder später – müssen wir alle gehen. Große Philosophen kamen in die Welt, Meister kamen in die Welt; sie alle hatten einen menschlichen Körper und sie verließen ihn auch wieder. Es gibt keine Ausnahme von dieser Regel. Bevor wir das nicht richtig begreifen, können wir nicht erkennen, wie die Dinge wirklich liegen. Die Meister sagen: „Ihr müsst diese Welt verlassen. Die Dinge bleiben hier, ihr werdet mit leeren Händen gehen.“ Aber wir wollen es nicht wahrhaben.
Neue Einstellung zum Leben
Wenn uns diese Dinge bewusst werden, dann wird sich unsere Einstellung zum Leben, zu uns selbst und zu anderen ändern. Warum beuten wir andere Menschen aus? Warum behandeln wir sie schlecht? Sie haben doch den gleichen menschlichen Körper wie wir, sie sind vom gleichen Wesen Gottes wie wir – Tropfen aus dem Meer aller Bewusstheit. Es ist die gleiche kontrollierende Kraft, die jeden von uns im Körper hält. Das höchste Ziel des Lebens in menschlicher Form ist es, sich in dieses göttliche Bewusstsein zu erheben. Und die erste Voraussetzung für Gotterkenntnis ist – Selbsterkenntnis. Du musst erkennen, wer du bist. Du bist nicht der menschliche Körper, du wohnst nur in ihm. Wir müssen ihn auf beste Weise nutzen. Denken wir daran, wie es ist, für ein paar Tage oder Wochen Urlaub an einem anderen Ort zu machen. Obwohl man sich der Zeit am Urlaubsort erfreut, weiß man, dass man irgendwann wieder abreisen und in die Heimat zurückkehren muss. Wenn man sich mit dieser Einstellung über das Körperbewusstsein erhebt, dann wäre einem immer bewusst, dass diese Welt nicht unsere Heimat ist. Die wahre Heimat der Seele ist die vollkommene Bewusstheit bei Gott. Wir sind begünstigt, als Menschen geboren zu sein, denn nur das menschliche Wesen hat das Potenzial, sich selbst und Gott zu erkennen und in die spirituelle Heimat zurückzukehren. Das ist den niedrigeren Arten der Schöpfung nicht möglich. Sie kommen nur auf die Welt, um die Rückwirkungen früherer Handlungen zu erdulden – um die Früchte ihres Tuns zu ernten. Im menschlichen Körper, den wir als Rückwirkung unserer Vergangenheit erhalten haben, sind wir innerhalb gewisser Grenzen frei, unsere Schritte auf den rechten Weg zurück zu Gott zu lenken. Das beginnt damit, dass man lernt, wie man sich über das Körperbewusstsein erhebt und willentlich den Körper verlässt – und wieder in ihn zurückkommt, um unser karmisches Geben und Nehmen in der materiellen Welt zu erfüllen. So wird man von der großen Täuschung frei und die ganze Einstellung zur Welt und zum Leben darin ändert sich.
Sterben ohne Angst
Früher oder später müssen wir alle den Körper verlassen. Dieses Schicksal erwartet einen jeden, ohne Ausnahme. Trotzdem fürchten wir den Tod. Der Tod ist aber nur eine Veränderung, so wie die Sonne auf der einen Seite der Welt untergeht und auf der anderen wieder aufgeht. Ähnlich verlassen wir diese physische Welt und erheben uns ins Jenseits. Das ist eine praktische Frage, und wenn es einem erklärt und gezeigt wurde, sollte man diese Erfahrung tagtäglich weiterentwickeln. Der Tod ist also kein Schreckbild. Für jene, die bereits eine Erfahrung vom Jenseits haben, ist er eine wohltuende Veränderung. Andere fürchten ihn. Warum? Aus zwei Gründen. Zum einen, weil Sterbende gewöhnlich große körperliche Schmerzen erleiden. In den indischen heiligen Schriften heißt es, dass der Schmerz, den man beim Sterben fühlt, mit dem Schmerz von eintausend Skorpionstichen vergleichbar ist. Und zum anderen haben wir Angst vor dem Tod, weil wir nicht wissen, wohin wir im Jenseits gehen werden. Wer aber mit der Anleitung und Hilfe eines fähigen spirituellen Meisters bereits zu Lebzeiten lernt, wie man sich eine Zeitlang über das Körperbewusstsein ins Jenseits erhebt, für den verliert der Tod seinen Schrecken. Er vergisst vorübergehend die physische Welt, denn sein inneres Auge ist geöffnet und er sieht ins Jenseits.
Alle Herrlichkeit und Schönheit sind in deinem eigenen Innern. Die astralen Ebenen sind schöner als die physische. Die kausale Ebene ist noch schöner, und die rein geistigen Ebenen jenseits davon sind die schönsten von allen. Wer Erfahrung vom Jenseits hat, möchte natürlich dorthin gehen, aber wir sind durch unsere karmischen Verpflichtungen hier gebunden. Auch die spirituellen Meister, die anderen als Reiseführer und Begleiter zu Gott dienen, möchten endgültig zu Gott zurückkehren, aber sie sind durch Weisung gebunden. Sie haben einen Auftrag, den Menschen in ihrer spirituellen Entwicklung zu dienen. Es ist ein großer Segen, einen lebenden Meister zu haben. Auch wenn ein Meister seinen Körper endgültig verlässt und zu Gott zurückkehrt, die durch ihn wirkende Gotteskraft stirbt niemals, sondern wirkt dann in einem anderen menschlichen Körper. Das ist also das Erste, was auf dem Weg der Spiritualität zu lernen ist: wie du dich von der Täuschung frei machen kannst. Durch tägliche Meditation übst du dich darin, den Körper willentlich zu verlassen und dich ins Jenseits zu erheben. Dort sollte aber jemand sein, der dir dabei hilft und dich durch die geistigen Ebenen führen kann. Wer das vermag, wird ein Heiliger oder Meister genannt. Er verlässt die ihm anvertrauten Seelen niemals, weder hier noch im Jenseits.
Sant Kirpal Singh
Sant Kirpal Singh (1894 – 1974) wirkte von 1948 bis zu seinem Tod als spiritueller Meister des Surat-Shabd-Yoga. Auf seinen Vortragsreisen und als langjähriger Präsident der „Weltgemeinschaft der Religionen“ erwarb er sich im Osten wie im Westen große Achtung und Sympathie.
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