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Das Beten ist von zentraler Bedeutung für die spirituelle Entwicklung. Aber nicht das Herunterleiern vorformulierter ritueller Gebete und Bittgebete gibt der Seele Auftrieb, sondern das stille Gebet im Herzen.

Das Gebet ist ein wichtiger Bestandteil der Religion. Alle Religionen reden davon, Tag für Tag beten Menschen in aller Welt im Rahmen ihrer jeweiligen Religion zu Gott bzw. zu diversen Gottheiten. Dabei ist den wenigsten Menschen klar, warum und wozu man überhaupt beten soll. Einmal rief mich zum Beispiel eine Dame an und erzählte mir, sie habe eine blinde Katze, die ihr abhanden gekommen sei. Sie bat mich, für ihre Rückkehr zu beten. Darauf fragte ich zurück: „Aber was hat mein Gebet mit deiner Katze zu tun?“

Daran erkennt man zwei sehr verbreitete Irrtümer: Erstens, wir bitten andere, für uns und unsere Anliegen zu beten. Und zweitens, wir beten um ganz gewöhnliche, irdische Dinge. So hat sich das Gebet mit alltäglichen, materiellen Zwecken verknüpft. Dabei gehört das Beten zum Wesen der Religion und ist, wie andere Sakramente auch, von zentraler Bedeutung für die spirituelle Entwicklung. Darum sollten wir zunächst einmal wissen, an wen wir unsere Gebete richten sollen.

Zu wem beten?

Gott ist die allumfassende, allmächtige und alles bewirkende Schöpferkraft, die die ganze Welt am Laufen hält. Darum kann nur er uns auf unser Gebet hin helfen. Welcher Nutzen läge auch darin, zu jemandem zu beten, der gar nicht fähig wäre, uns zu helfen? Deshalb geben uns die heiligen Schriften den Rat, unser Gebet nur an den einen, allmächtigen Gott zu richten. „Nur zu Gott sei still, meine Seele, von ihm her ist meine Hilfe. Nur er ist mein Fels, meine Hilfe, mein Schutz“, heißt es in Psalm 62.

Die Ausrichtung ist klar: Wir sollten zu nichts und niemand anderem als Gott selbst beten – weder zu den Engeln, den verschiedenen göttlichen Erscheinungsformen, noch zu irgendwelchen anderen Dingen, die mit Gott zusammenhängen. Die heiligen Schriften der Menschheit erwähnen verschiedene Erscheinungs- und Wirkungsformen Gottes. Den Veden zufolge sind es ganze 33, vom Licht Gottes bis hin zu gottverwirklichten Heiligen oder Gottmenschen. Es gibt sie, und wir können sie in der Meditation erleben – Licht, die göttliche Engelsmusik, die Heiligen und Propheten –, aber wir sollen unsere Gebete nicht an sie richten. Sie haben lediglich eine vermittelnde Funktion zwischen der Seele und dem Allerhöchsten.

Wir haben also auch nicht zu Gottmenschen zu beten, weder zu einem lebenden Heiligen unserer Zeit, noch zu jenen früherer Zeiten. Der Gottmensch dient nämlich auch nur als Mittler, der unsere Gebete Gott überbringt. Dieses Prinzip hat z. B. Jesus Christus betont: „Auch sollt ihr niemanden unter euch auf Erden Vater nennen, denn einer ist euer Vater, der im Himmel ist.“ (Matthäus-Evangelium 23,9) Daraus geht klar hervor, dass wir zu niemand anderem als zu Gott, unserem Schöpfer, beten sollten.

Worum sollen wir bitten?

Als zweites ist zu bedenken, worum wir Gott bitten sollten: Vor allem nicht um Dinge dieser Welt! Auch in diesem Prinzip stimmen alle Religionen überein. Wenn wir in dieser Welt etwas erhalten oder erreichen wollen, geht das nicht durch Betteln, sondern wir müssen es uns erarbeiten oder ausleihen bzw. ein Darlehen aufnehmen und das Geliehene später zurückerstatten. Wenn wir aber schon in dieser Welt nicht um Dinge betteln dürfen, wie können wir dann von Gott weltliche Dinge erbetteln?

In diesem Zusammenhang sollten wir berücksichtigen, dass alles, was wir in dieser Welt erhalten, vorherbestimmt ist. Es steht von vornherein in unserem Schicksal fest, was wir bekommen und was nicht, und zwar als Folge unserer Handlungen in früheren Leben (Karmas). Wenn ich beispielsweise ein schönes Haus habe und eine nette Frau und liebe Kinder, dann geht das auf meine Karmas in der Vergangenheit zurück. Und wenn ich das gleiche, aber in schrecklicher „Ausführung“ habe, so ist auch das ein Ergebnis meiner eigenen Handlungen. Denn die Rückwirkungen früherer Gedanken, Worte und Taten müssen irgendwann ausbezahlt und hingenommen werden. Anders kommen wir nicht davon los.

Angenommen, ich bin aufgrund meiner früheren Handlungen krank, dann hat es keinen Sinn, Gott um Gesundheit zu bitten, denn dieses Karma muss abgegolten werden. Einmal war die islamische Heilige Rabi’a von Basra krank, da riet ihr ein Nachbar, doch um Genesung zu beten. Da sagte sie: „Wozu? Gott weiß doch, dass mich diese Krankheit befallen hat, er hat sie mir ja geschickt. Warum sollte ich ihn also bitten, sie mir wieder zu nehmen?“

Aus spiritueller Sicht ist es nicht gut für uns, um weltliche Dinge zu beten. Es hat auch gar keinen Wert, weil sie ja vorherbestimmt und durch Beten nicht zu ändern sind. Das Gebet ist vielmehr der spirituellen Entwicklung der Seele vorbehalten. Oder, anders ausgedrückt: Das Gebet soll auf dem inneren Weg zur Vereinigung mit Gott unsere Triebkraft sein. Denn dieser Weg birgt viele Stellen, wo wir ins Straucheln kommen können. Dann ist uns das Gebet von echtem Nutzen.

Wie sollen wir beten?

Als drittes geht es darum zu wissen, auf welche Art und Weise wir beten sollen. Aus dem Verstand heraus zu beten, bringt nichts. Mit dem Verstand können wir weder unsere spirituelle Entwicklung richtig einschätzen noch um die Zukunft wissen. Der spirituelle Fortschritt gehört zu einer Sphäre, die sich dem Verstand entzieht. Deshalb können wir nicht mit dem Verstand beurteilen, was wir zu unserer spirituellen Weiterentwicklung von Gott erbitten können.

Manchmal beten die Leute Gott gleich einen ganzen Wunschzettel vor, den sie sich schlauerweise zurechtgelegt haben und bitten: „Ich will dies, und mach doch bitte das ...“, und dabei entgeht ihnen vieles, was wichtiger wäre als jene Dinge, worum sie gebeten haben. Ein solches mentales Beten ist vergeblich. Das Gebet, das Gott erreichen soll, kommt nicht aus dem Verstand, sondern aus dem Herzen, aus dem Innersten der Seele.

Deshalb brauchen wir auch nicht mit erhobener Stimme zu beten oder gar zu singen und zu schreien. Gott ist allgegenwärtig, und er weiß, welche Sorgen und Wünsche wir in unserem innersten Herzen haben. Deshalb brauchen wir es beim Beten nicht in Worten auszudrücken oder lauthals herauszuschreien. Jesus Christus warnte seine Schüler vor dem wortreichen Gebet: „Du aber, wenn du betest, geh in deine Kammer und schließ deine Tür zu und bete zu deinem Vater im Verborgenen; und dein Vater, der ins Verborgene sieht, wird es dir vergelten. Und wenn ihr betet, sollt ihr nicht viel plappern wie die Heiden, denn sie meinen, sie werden erhört, wenn sie viele Worte machen. Darum macht es nicht wie sie. Denn euer Vater weiß, was ihr nötig habt, bevor ihr ihn bittet.“ (Matthäus 6, 6–8)

Beten in mystischer Stille

Dies ist eine ganz klare Anweisung, wie wir beten sollen. Wenn es heißt: „Geh in deine Kammer“, bedeutet dies, dass wir unsere Aufmerksamkeit von außen nach innen wenden sollen. „Schließ deine Türe zu“ bedeutet, dass die Aufmerksamkeit nicht mehr durch die Sinne nach außen fließen soll.

Beten heißt demnach meditieren. Denn auch die Meditation geschieht in zwei Phasen. Die erste Phase besteht darin, dass wir „in unsere Kammer“ – den Wohnsitz der Seele im Dritten Auge zwischen und hinter den physischen Augen – gehen und „die Tür verschließen“; das ist Konzentration. Das Denken wird zum Schweigen gebracht und die Aufmerksamkeit sammelt sich im Innersten. Dies zu erlernen bedarf der geduldigen Übung und der kundigen Anleitung durch einen spirituellen Meister

Der zweite Teil ist die eigentliche Meditation, bei der wir in Kontakt und innigem Austausch mit Gott sind, und dies wird bei Matthäus als Beten bezeichnet: „Bete zu deinem Vater im Verborgenen.“ Gott ist zwar vor dem Verstand verborgen, aber er ist in unserem Innersten gegenwärtig, wo wir mit ihm zusammenkommen können. „Und dein Vater sieht ins Verborgene“ besagt, dass Gott weiß, was uns im Herzen beschäftigt. „Er wird es dir vergelten“ drückt aus, dass unser Gebet dort (im Herzen) erhört und erfüllt wird. Das Gebet besteht also darin, dass in der Kommunion der Seele mit Gott alle Wünsche oder Anliegen direkt von der Seele zu Gott gehen und dass Gott sie annimmt und uns entsprechend vergilt.

Erhörung Wir können

Gott also nicht durch Sprechen, Schreien oder Singen anbeten, sondern nur, indem unsere Seele sich in „der innersten Kammer“ sammelt und in Kontakt mit Gott kommt.

Hier mag nun jemand einwenden: „Auch wenn wir nicht wissen, wie wir richtig beten sollen, dann weiß es doch Gott, und wenn er mit uns verbunden ist, kann er unsere Bitten doch auch so erhören und erfüllen, ohne dass wir beten.“ Die Sache ist nur die: Wenn Gott und die Seele gar nicht zusammen im Inneren weilen (weil unsere Aufmerksamkeit ständig mit den Sinnen nach außen gerichtet ist), wie kann Gott dann mit der Seele in Verbindung treten, und wie soll dann die Seele ihre Wünsche an Gott weitergeben? Darum müssen wir unsere Aufmerksamkeit zuerst nach innen zurückziehen. Wenn unsere Seele dann bei Gott ist, sind wir im Gebet, und es wird erhört und erfüllt.

  Soami Divyanand

(1932–2014), Meister des Surat-Shabd-Yoga, lehrte mehr als 35 Jahre lang den spirituellen Pfad des inneren Lichtes und Klangs. Veden-Übersetzer und Autor zahlreicher Bücher.

Kirpal Singh:
Das Gebet - Sein Wesen und seine Methode
(Origo Verlag)

Foto(s): Alexander Milo on Unsplash

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