Magazin Visionen - Einfach. Besser. Leben.

In ihrem neuen Buch nimmt Alexa Szeli uns mit auf eine Traumreise durch die 13 Rauhnächte. Auf alten Wegen tauchen wir in die Welt der nordischen und keltischen Mythologie ein, lernen Krafttiere kennen und entdecken besondere Räucher-Rituale…

Auf der Schwelle zwischen dem Reich der Träume und dem beginnenden Tag, höre ich den Knochenbeutel rasseln. Die Schnitterin, die Tödin, die Winterhex, die alte Hag, sie kichert leis‘ zur blauen Morgenstunde. Ihr eisiger Atem legt sich über Wasser, Wald und Wiesen. Der Nebel, gleichsam einem Flüstern, raunt: „Wach auf, Erdenkind, wach auf. Die Rauhnächte beginnen.“ Es ist die Mōdraniht, die Mütternacht, die heiligste Zeit des Jahres, geborgen im Schoß rabenschwarzer Finsternis. Es ist die Nacht der Wintersonnenwende. Ich spüre es: Eine fast greifbare Erwartung schwebt in der Luft. Etwas geschieht, regt sich in der Tiefe. Ich springe aus dem Bett. Der Ruf der Schnitterin zieht mich fort von zu Haus. Ich verlasse meine kleine Hütte in der Tiefe des Waldes, um einen der vielen Kraftplätze in der Umgebung aufzusuchen. Je näher ich der alten Höhle komme, desto mehr verliere ich mich in Raum und Zeit. Schleier sind dünn in dieser Zeit. Die Dimensionen vermischen sich.

Ich bin ein Erdbauchkind. Höhlen sind mein Seelenhaus. In der Welt der Wurzeln atme ich auf. Ich habe ein dichtes Fell dabei und lasse mich auf dem steinigen Boden nieder. Meine Augen schließen sich und mein Geist geht auf die Reise. War es eben noch Tag, beginnt in der anderen Welt soeben die Nacht. Das Abendrot lässt mich tiefer sinken. Hinein in dieses Reich, welches alles zersetzt und neu gebiert. Sanft schmiege ich mich in den Mutterboden. Raben kreisen immerfort über mir und erzählen Geschichten von der Welt. Leise nur erklingt ihr Ruf in der Ferne der Nacht. Magie flimmert, verwebt die Räume. Sie vibriert in den Knochen. Müde sind sie vom Jahr. Ich krieche eine Höhle weiter. Verliere mich im Fell von Mutter Bär. „Bald“, flüstert mein Krafttier, ehe es wieder schläft. „Ja“, denke ich, „bald.“ Den wilden, animalischen Duft atmend, lausche ich fasziniert dem gleichmäßigen Rhythmus ihres Herzens. „Ja, große Bärin, bitte schlag die Trommel“, raune ich leis‘, ehe mein Geist mehr und mehr versinkt.

Im Traum webe ich mich tiefer in den erdigen Schoß. Sickere ich der unausweichlichen Geburt entgegen. Die Kontraktionen im Erdenbauch nehmen zu. Ich spüre den Puls. Mein Atem steht nahezu still. Da! Die rote Glut des Erdkerns bäumt sich auf. Sie ist bereit zur Eruption. Jetzt, in dieser Nacht, eingeschlossen im Schoß von Mutter Erde, passiert das Wunder: Das Licht, die Sonne wird neu geboren. Es ist wie im Leben. In den dunkelsten Schatten wartet der eine Funke, der alles zum Leuchten bringt. Die neue Sonne steigt auf, trägt mich mit sich fort, zurück in das Fell der Bärin.

Wieder rasseln die Knochen. Meine Augen öffnen sich, suchen das feixende Gesicht der Winterhex‘. „Hab ich dich!“ Dort im Verborgenen steht sie. Silberfäden glänzen in ihrem schlohweißen Haar. „Jetzt wach auf, Erdenkind, wach auf. Die erste Rauhnacht beginnt.“ Lichter Nebel verlässt den faltigen Mund. Ihre Pupillen, dunkler als die Nacht, weiten sich. Sie lacht unbekümmert wie ein junges Mädchen, doch hager sind Gesicht und Gebein.

Sag, Schnitterin, wohin soll ich gehen?“ „Zur Quelle, Kind, zur Quelle. Folge dem Pfad der Ahninnen. Reise mit der Falkin. Nordwärts geh, immer nordwärts. Halt ein im Tal der vier Winde, eingebettet zwischen Felsen und Moos. Sieben Häuser, dreizehn Geschichten. Eile geschwind.“ Kaum hat sie gesprochen, ist sie fort, einmal mehr mir entwischt. Nur ihr Kichern hallt in den Wänden nach.

„Folge dem Pfad der Ahninnen. Halt ein im Tal der vier Winde. Die Falkin. Zur Quelle. Eile.“ Müde erwehre ich mich des Wunsches, tiefer ins Fell der Bärin zu sinken, und gebe mir einen Ruck.

„Bis bald, Mutter Bär.“ Ich ertaste die schroffen, archaischen Wände. Folge der schwindenden Spur der alten Hag. Der raue Gesang eines uralten Liedes vibriert in meiner Seele:

„Erdmutter,
Dunkelmutter,
Schädelmutter,
Knochenmutter,
Blutig rot ihr glühend Schoß,
wie das Morgenrot und das Abendlicht,
wenn die Sonne die Naht zwischen
Tag und Nacht zerbricht.

Roh und ungeschliffen ist der Klang. Ursprünglich, unverfälscht. Meine Hände tasten sich weiter vor an der felsigen Wand, bis ich den Ausgang finde und Haut und Haar im Mondlicht baden.

Ich bin zurück aus meiner Trance, oder nicht? Tonlos, wie ein Bergsee, gleitet die Nacht durch Zeit und Raum. Vielleicht hält sie inne, wohlwissend, dass jeder weitere Tag an Stärke gewinnt. Oder wartet sie auf den Sturm? Meine Augen suchen am mondfarbenen Himmel nach Odin, Frigg und der wilden Jagd. Gott und Göttin und ihre Heerschar verlorener Seelen, Geistwesen – das Totenheer. Flankiert von krächzenden Raben, schwarz wie die Nacht selbst. Odin reitet auf seinem achtbeinigen Pferd, Sleipnir genannt. Frigg steht mit der Peitsche auf ihrem Wagen, die durch die Finsternis knallt. Zahllose Wesen übertreten die Grenze zu unserer Welt – Götter und Geister, Hexen und Walküren, tote Seelen, allerlei Getier. Rosse wiehern, Wölfe jaulen. Klagegeschrei zerreißt die Nacht. Einst fürchtete das Volk die wilde Jagd wie der Teufel das Weihwasser. Vor allem im Gebirge tosten in der Winterzeit die Stürme. Sie brausten und krachten, dröhnten und wüteten um bergiges Land. Sausten Täler hinab, rüttelten an der Bauern Häuser. Unerbittlich zerfetzten sie die Stille der Nacht. Die Türen und Fenster fest verschlossen, hofften die Bauern, den dunklen Wesen zu entgehen. Düstere Geschichten am Feuer flossen schon den Kleinsten mit der Muttermilch ins Blut.

Selbst heute finden im Alpenraum, wie einst, die sogenannten Perchtenläufe statt. Zumeist Männer tragen gruselige Masken. Sie gebärden sich furchterregend. Feuer glühen, Peitschen knallen, Böller pfeifen durch die Nacht, Glocken läuten, Töpfe werden geschlagen. Ein Heidenlärm ertönt bis in die Wolken hinein, um die finsteren Wesen anderer Welten zu vertreiben. Sie trommeln, sie fegen, sie schießen und schnalzen. Alles scheint erlaubt, Hauptsache, das Böse bleibt fern.

Die Percht ist eine Magna Mater, eine große Mutter. Dieser Archetyp kennt die Mysterien des Lebens und des Todes. Sie spinnt, webt und trennt die Lebensfäden. Du findest sie in Frau Holle, der Frigg oder der keltischen Wintergöttin Cailleach. All diese Göttinnen sind eine Göttin, allesamt verwoben, miteinander verbunden. Die Nacht der Percht ist die Perchtennacht, die Hollenacht, vom fünften auf den sechsten Januar eines jeden Jahres. Für mich persönlich ist es gleichsam eine Rauhnacht, die dreizehnte und letzte. Sie schließt einen Raum der Transformation. Sie ist eine Schwelle der Initiation. Lassen wir uns bewusst auf ihre Energie ein, so wartet Erneuerung. Mit dem Segen der weiblichen göttlichen Urkraft säen wir die Samen für das kommende Jahr. Neue Wege entfalten sich. Künftige Erfahrungen zappeln erregt. Sie warten darauf, durchlebt zu werden.

Wie die Holle kehrt die Percht in Haus und Hof ein. Sie schenkt ihren Segen dem Gebäude, dem Stall und dem Land. In den Gärten segnet sie die Apfelbäume. Sie sind die Frucht des Lebens. Im Märchen „Frau Holle“ ist der Apfel ein bewusst gewähltes Element. In einigen Gegenden ist es heute noch Brauch, die Bäumchen zu schütteln, um den Segen der Göttin zu empfangen. Diese Frucht spendet die Kraft des Lebens. So die Kunde. Wer sich seinen Aufgaben stellt, den belohnt am Ende das Leben, wie bei der Goldmarie.Noch immer stehe ich im Mondlicht und lausche. Kein Laut ist zu hören. Es ruht die wilde Jagd hinter den Schleiern der Anderswelt, dem Reich der Ahnen. So bleibt mir Zeit, weiter zu berichten, mit dir zu reisen. Weben wir uns tiefer in die Rauhnachtszeit…

Alexa Szeli

Das Buch:
Alexa Szeli: Ein Rauhnacht-Märchen
aus dem Tal der vier Winde.
UNUM bei Gräfe & Unzer, 2024.
192 Seiten, gebunden.
ISBN 978-3-8338-9196-0

Foto(s): getty images

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