Magazin Visionen - Einfach. Besser. Leben.

Über die Fülle und Kraft der Einfachheit - Spektakuläre Erleuchtungs- und Ganzheitserfahrungen können geschehen – oder auch nicht. Für den Autor Jörg Bernardy haben solche Erlebnisse mit Einfachheit zu tun

Ich war 24 Jahre und hatte gerade „Jetzt! Die Kraft der Gegenwart“ von Eckhart Tolle gelesen. In täglichen Meditationen versuchte ich so oft wie möglich die unendliche Fülle des Augenblicks zu erfahren. Tagsüber studierte ich Philosophie, machte Yoga und beschäftigte mich mit den Sutren des Patanjali, einem geheimnisvollen Weisen aus dem alten Indien. Ich war fasziniert von der Vorstellung, dass man über Meditation und Übung seinen Geist erweitern und vervollkommnen könnte. Ich hatte mich für drei Wochen in den Benediktushof eingebucht, ein altes Benediktinerkloster in Bayern. Unter der Anleitung des Zen-Meisters Willigis Jäger wollte ich die Kunst der Zen-Meditation erlernen. Teil des Aufenthalts war eine Schweigewoche und ich erinnere mich, wie aufgeregt ich war. Würde ich es wirklich schaffen, auf jegliche Kommunikation zu verzichten? Würde ich mein Handy ausgeschaltet lassen und mich auf die Erfahrung des Schweigens voll und ganz einlassen können?

Ich weiß noch, wie skurril es war, mit anderen an einem Tisch zu sitzen und gemeinsam zu essen, ohne auch nur ein einziges Wort zu wechseln. Die Geräusche des Essens, das Geklapper des Geschirrs, das Kauen, Schmatzen, Schlucken und all die Bewegungen, die zum Essen gehören – das alles ließ mich nach und nach vergessen, dass ich niemanden im Speisesaal kannte. Obwohl wir kein einziges Wort miteinander sprachen, stellte sich nach ein paar Tagen ein tieferliegendes, warmes und selbstverständliches Gefühl der Gemeinschaft ein.

In der nächsten Woche hatte ich Küchendienst und war dafür zuständig, das gebrauchte Geschirr in die Küche zu bringen. Der Koch, ein sehr freundlicher und kontaktfreudiger Mensch, erzählte mir eines Abends seine Lebensgeschichte. Vor ein paar Jahren hatte er ein „Erleuchtungserlebnis“, woraufhin er mit dem Meditieren anfing, sein Leben von Grund auf änderte und irgendwann durch Zufall im Benediktushof gelandet war. In einer Phase persönlicher Orientierungslosigkeit, als er noch in Berlin lebte, war er eines Nachts auf den Alexanderturm hochgefahren. Als er dort oben stand und über Berlin schaute, wurde aus der Skyline plötzlich ein gewaltiges Lichtermeer. Die Konturen, Umrisse und Lichter fingen an zu verschwimmen. Alles geriet in Bewegung und löste sich in pixelige Einzelpunkte auf. Was wir in der Regel als feste Materie bezeichnen, verwandelte sich vor seinen Augen in ein komplexes, alles durchdringendes virtuelles Energiefeld. Wie im Film „Matrix“ habe sich ihm in diesem Moment die Illusion der Wirklichkeit offenbart, erzählte er mir. Er beobachtete, wie sich das, was wir gewöhnlicherweise als Realität wahrnehmen, in seine Einzelteile auflöste und sich ihm die wahre Natur von allem zeigte.

Ob ich auch schon eine Erleuchtungserfahrung gemacht habe, fragte er mich abschließend. Ich war völlig geflasht und fasziniert. War es nicht das, worum es den großen Weisen wie Platon und Patanjali in ihren Schriften ging? Forderten sie uns nicht dazu auf, den Schleier der Wirklichkeit zu lüften, die Schatten unserer Vorstellungen zu überwinden und das wahre Wesen der Welt zu erkennen? Gleichzeitig war ich aber auch verunsichert, eingeschüchtert und skeptisch. Wie konnte er das einfach so rausposaunen? Für mich war Erleuchtung etwas, das man erst nach jahrelanger Übung erreichte. Und wenn man an diesem Punkt angekommen war, dann hatte das ganz sicher nichts mit einem Film wie „Matrix“ zu tun.

Zustand, eine alltägliche Seinsweise, in der man Einfachheit und Leichtigkeit ausstrahlt, aber ganz sicher nicht über außergewöhnliche Erleuchtungserlebnisse redet. Zumal Patanjali in seinen Sutren vor dem Erlangen „übernatürlicher Fähigkeiten“ warnt, den sogenannten Siddhis, die Menschen auf dem Weg der Erleuchtung entwickeln. Von diesen übernatürlichen Kräften und Erlebnissen soll man sich weder verführen noch ablenken lassen.

Heute, fast 20 Jahre später, muss ich liebevoll schmunzeln, wenn ich an das Gespräch mit dem Koch zurückdenke. Ich habe ihm nicht nur vergeben. Ich bin ihm sogar dankbar, dass er mich damals auf so direkte Weise mit der spektakulären und verführerischen Seite der Erleuchtung konfrontiert, herausgefordert und überwältigt hat. Zumal ich ein ähnliches Erlebnis im Kölner Stadtwald hatte, das ich aber nicht als „Erleuchtung“, sondern als Einheits- oder Ganzheitserfahrung bezeichnen würde.

Völlig in mich versunken saß ich auf einer grünen Wiese. Mit halb geschlossenen Augen schaute ich auf die Bäume, die Sträucher und den Boden vor mir, als plötzlich alles in Bewegung geriet. Der gesamte Stadtwald verwandelte sich vor meinen Augen in eine einheitliche, lichtdurchflutete Masse, durch die langsam große und gleichmäßige Wellen verliefen. Es gab keinen Unterschied mehr zwischen der Luft, den Bäumen, der Erde und den Sonnenstrahlen. Alles war eins und ich mittendrin. Ich war Teil dieses sich gleichmäßig bewegenden Ganzen.

Vielleicht habe ich im Stadtwald damals die Erfahrung von bewusster und lebendiger Materie gemacht. Beweisen lässt sich das natürlich nicht. Einsichten und Erfahrungen dieser Art haben für mich immer etwas mit Einfachheit zu tun. Sie fühlen sich real und alltäglich an, nicht wie in einem Film. Sie machen uns weder größer noch kleiner als wir sind. Oftmals wird gesagt: Fake it until you make it! Ganzheitserfahrungen sind aber nichts, das wir machen könnten. Wer spirituell wachsen will, sollte einen anderen Weg einschlagen: Experience it until you feel it!

Spirituelles Wachstum ist eine Frage des inneren Erlebens, das mit der bewussten Wahrnehmung von Fülle beginnt – in uns und um uns herum. Hier zählt nicht das Außergewöhnliche und Spektakuläre, sondern das Einfache und Alltägliche. Das Prinzip der Einfachheit verbindet und schafft Erfahrungen der Verbundenheit. Es hilft uns, das Wesentliche zu fokussieren und unsere Balance in der Vielfalt innerer Erfahrungen zu finden. Aus der Fülle der Einfachheit gewinnen wir Klarheit, Freude und tiefen inneren Frieden. Dabei gilt die Maxime: Leichtigkeit ist das Ziel, Einfachheit der Weg. Alles andere ist Gnade.

Jörg Bernardy

Buchtipps:
Dr. Jörg Bernardy: Über die Kraft der Einfachheit in turbulenten Zeiten. 22 philosophische Einsichten. GU Verlag, 2024
Dr. Jörg Bernardy: Der kleine Alltagsstoiker - 10 Gelassenheitsregeln für Lebensglück. GU Verlag, 2021
www.schooloflife.com

Foto(s): © gettyimages

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